Fuerteventura
Denken Sie meinen „Raumversuch Nummer 6“ als beides – ein reales Gebäude, das Sie physisch erleben und als mentales Konstrukt. Wenn Sie sich z.B. in Krisenzeiten daran erinnern, kann es Ihnen helfen, diese leichter zu bewältigen. Versteht man es wie ein Werkzeug, so kann mein „Raumversuch Nummer 6“ überall platziert und gefunden werden. Hier sehen Sie es in der Nähe der Westküste von Fuerteventura.
Erdene Dsuu
Es fällt mir offenbar sehr leicht, den Raumversuch Nummer 6 einfach in die weite Leere der Wüste zu stellen. Keine anderen Gebäude, keine anderen Einflüsse als Stein und Sand. Keine Herausforderung für mich. So weit weg platziert, am Rande der Insel Fuerteventura, würde sich meine Architektur unverkennbar in eine Kette von Touristenattraktionen einreihen. Einsteigen und aussteigen für einen schnellen und kurzen Konsum. Für einen Besuch müsste man sich mit all den anderen Touristen in einen dieser Shuttle-Busse quetschen und ein wenig gestresst ankommen.
Die Leute würden kommen, ein paar Stunden besichtigen und wieder gehen. In diesem Fall habe ich Angst, dass mein Raumversuch seine wohltuende und heilende Wirkung verfehlen würde. Ich möchte nicht, dass sich mein Raumversuch auf diese Weise entwickelt.
Hier in der Inneren Mongolei hingegen, auf dem Gipfel nördlich von Erdene Dsuu, einer 400 Meter großen Klosteranlage, entwickelt sich mein Raumversuch Nummer 6 zu etwas anderem. Umgeben von Stupas, Steinschildkröten und anderen buddhistischen Denkmälern, passt es sich der Umgebung und ihrem religiösen Aspekt an. In fußläufiger Entfernung zum Kloster gelegen, ist es für Mönche, Bewohner und Besucher gut erreichbar. Natürlich kommen die Besucher als Touristen hierher, aber ich denke, sie sind aufmerksamer und achtsamer. Mein Raumversuch könnte ein Ort des Gebets, der Meditation und der Zeremonien werden. Auch wenn das Naadam-Nationalfest gefeiert wird, könnten einige der Sportspiele im Amphitheater stattfinden. Und der Moment der Selbstreflexion kommt von ganz allein.
Orakel von Delphi
Mein Raumversuch Nummer 6 trifft auf Delphi. In den Ruinen des Heiligtums finde ich vielleicht das Orakel. Irgendwie versteckt zwischen den Jahrtausenden. Ich würde sie gerne treffen. Ich würde ihr gerne einen neuen Ort geben, an dem sie wieder mit dem Göttlichen kommunizieren kann. Denn im alten Hellas manifestierten sich die Götter nicht nur in Naturzeichen wie Donner und Blitz, sondern sprachen auch direkt durch eine vermittelnde Person. Die Priesterin Pythia gab dem Willen der Götter ihre Stimme. Ihre Antworten waren oft unverständlich und zweideutig. Sie brauchte wiederum Priester zur Deutung. Aber die Griechen glaubten dennoch unerschütterlich an die Richtigkeit des göttlichen Urteils.
Könnten wir die neuen Griechen werden? Treten Sie ein wenig zurück und gehen Sie dabei vorwärts.
An einer steilen Hanglage der Parnass-Gebirgskette gelegen, ist das Terrain nicht einfach zu bebauen. Ich werde meinen Raumversuch sorgfältig in die bestehende Architektur des Heiligtums einfügen. Durch die Verwendung des ursprünglichen Amphitheaters und den Bau eines zweiten Amphitheaters auf Basis einer Gerüstkonstruktion vermeide ich unnötige Eingriffe in den Originalzustand des historischen Delphi. Um einen sicheren Aufenthalt im Raumversuch zu haben, ist es notwendig, alle Elemente auf das gleiche Niveau zu bringen. Es muss viel Handarbeit geleistet werden.
Ich weiß sehr wohl, dass es ein heikler Ort und ein heikles Unterfangen ist. Den alten Apollo-Tempel zu ersetzen, scheint wahnsinnig. Apollo war der Gott des Lichts und der Sonne. Aufgrund seiner enormen Helligkeit konnte er sein Licht in der Zeit nach vorne projizieren, um die Zukunft zu erkennen. Wie könnte eine Architektur glauben, einen solchen Gott, eine solche Mission zu beherbergen? Zumindest könnte es ein Anfang sein, uns einen Raum zu bieten, in dem wir unsere Fähigkeit zum Innehalten und zur Kontemplation üben können.
Leipzig
Die Stadt Leipzig sucht noch immer nach einem Denkmal im öffentlichen Raum zur Erinnerung an die Friedliche Revolution im Herbst 1989. Ich könnte mit meinem Raumversuch Nummer 6 einen Beitrag dazu leisten. Mein Vorschlag für ein Freiheits- und Einheitsdenkmal ist ein architektonischer Ansatz innerhalb großer schön gestalteter Parkflächen. Es ist kein Mahnmal im herkömmlichen Sinne, das dazu auffordert, es zu umrunden und von unten nach oben zu betrachten. Es ist eher ein Ort, der allein und mit anderen erlebt werden kann. Friedliche und ruhige Plätze wechseln sich mit belebten und lauten ab. Das Lieblingsbuch im Amphitheater genießen. Sich selbst in den Spiegelungen der langen Glaskorridore beobachten. Einem Sumo-Wettkampf beiwohnen und den Atem in einer Yoga-Stunde trainieren. Alles über Obstbäume und Bienen lernen. Mit Freunden und Familie die Wiedervereinigung feiern. Frieden und Freiheit stabilisieren. In jedem neuen Jahr wird es ein abwechslungsreiches Programm mit inspirierenden Vorträgen und Konferenzen geben.
Zusammen mit der Dresdner Architektin Stefanie Tröger, dem Dresdner Architekten Marius Drauschke und dem 3D-Spezialisten Pascal Garten habe ich meine Idee „Raumversuch Nummer 6“ in greifbare Ergebnisse umsetzen und sogar weiterentwickeln können. Die Arbeitsweise als Team habe ich von Beginn an angestrebt. Das „Denkzeit“ Stipendium der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen hat mir diesen interdisziplinären Dialog ermöglicht, wofür ich sehr dankbar bin.
Wir haben uns in die erste Phase eines Baukunst-Wettbewerbs versetzt. Das erlaubte uns, den Raumversuch als Konzept so weit und so genau wie möglich zu definieren, trotzdem nicht zu detailliert auf die bautechnischen und lichtgestalterischen Fragestellungen eingehen zu müssen. Geht es doch hier um die Verbindung von mathematischer Raumdefinition durch messbare Abstände und Größenverhältnisse und einem körperlich spürbaren Raum der Atmosphäre, der sich beispielsweite in Gefühlen von Enge und Weite konstituiert.
Mein „Raumversuch Nummer 6.2“ ist eine architektonische Versuchsanordnung, die ohne den Besucher unvollständig ist. Der Raumversuch muss begangen und erlebt werden. Durch die Interaktion der Besucher mit dem Kunstwerk verliert der Besucher seinen Status als ein von der Idee unabhängiges Individuum. Der Besucherstatus wird zugunsten des Teilnehmerstatus aufgegeben. Der vom Rezipienten real gelebte, momentane Prozess vervollständigt mein Kunstwerk. Dabei pendelt quasi das Wahrnehmungserlebnis zwischen psychisch-kognitiver Aktivität und physischer Handlung hin und her. Insofern ist der Rezipient auch Produzent!
Das Individuum wird im „Raumversuch Nummer 6“ verwickelt in ein sinnliches Spiel aus aktivem Blicken und Angeblickt-Werden. Im ersten Spiegelglasgang wird der Rezipient sehr direkt mit sich selbst konfrontiert. Stets wirft das eigene Antlitz einen auf sich selbst zurück. Man ist ganz mit sich allein. In den folgenden Gängen, schiebt sich das Gesicht der anderen auf der gegenüberliegenden Seite der Glaswand in das eigene. Der individuelle Ist-Zustand wird zu einer Sache der anderen. Im Amphitheater verhält es sich ähnlich. Ob als Protagonist in der Arena oder als Zuschauer auf dem Rang, beim konzentrierten Wahrnehmen der anderen, können wir uns selbst erkennen.
Ich stoße die Rezipienten unvorbereitet in Situationen, die unangenehm, befremdlich oder sogar bedrohlich wirken können. Eine Selbstanalyse ist nicht immer einfach. Der Zustand innerer Unruhe wird jedoch im Laufe der architektonischen Dramaturgie abgelöst von einem Zustand der Ruhe und Konzentration.
Der Raumversuch agiert ergebnisorientiert. Als Werkzeug unterstützt er uns in so einem Moment des „Zu-Sich-Kommens“. Wir üben unsere Fähigkeiten zum Innehalten, zu Kontemplation und zur Bewusstwerdung. Der Raumversuch ist real gebaute Architektur, aber auch ein Gedankenkonstrukt.
Baustellenplan
Für die Baustellenzeichnung im Maßstab 1: 75 haben wir uns für eine leichte Papierqualität und die klassische Faltung eines Baustellenplans entschieden. Diese Zeichnung ist sehr detailliert. Der Plankopf informiert über die beteiligten Persönlichkeiten und Unternehmen. Die Planlegende schlüsselt die Umsetzung weiter auf. Auf der Baustelle kann damit das Bauvorhaben in seinen grundsätzlichen Schritten geplant und nachvollzogen werden.
Ein Besuch im Raumversuch kann heilsam wirken. Der „Raumversuch Nummer 6“ hat das Zeug zu beruhigen, zu konzentrieren und lässt einen zu sich selbst durch den anderen kommen. Der Faltplan passt in jede Tasche und ist ein praktischer, zuverlässiger Begleiter, den man jederzeit konsultieren kann. Hat man sich verirrt, weiß man nicht mehr, wo man sich selbst befindet und wo die anderen sind, kann man den Plan jederzeit auf dem Küchentisch, auf der Tischtennisplatte oder im Hochgebirge ausbreiten. Der „Raumversuch Nummer 6“ ist der Therapeut in der Tasche.
Des Weiteren analysieren vier Querschnitte die Architektur an den entscheidenden Stellen. Zuerst der Eingangsbereich mit seinem schmalen, schleusenartigen Portal. Dann folgt das Gangsystem mit seinen engen, hohen Spiegelglaswänden und den geteilten Amphitheatern. Der dritte Schnitt geht durch die Kammer und die engen Spiegelglaswände und macht aufmerksam auf den weiten Ausgangsbereich. Der letzte Schnitt zeigt den Landschaftsgarten, das leicht hügelige Terrain und die blühenden Zierkirschen und Zieräpfel.
Wandteppich und Triptychon
Der zweite Export der computergestützten Zeichnung findet im Maßstab 1:25 statt, was ein Hochformat in der Größe 4 x 6 Meter bedeutet. Die Druckausgabe erfolgt auf drei einzelnen Papierbahnen, die nebeneinander von der Raumdecke herabhängen und locker auf dem Boden aufliegen. Um die Aufmerksamkeit auf die Linien und Formen der Zeichnung zu lenken, haben wir die Zeichnung bewusst minimal gehalten. Der Zeichnung bleibt dadurch sehr konkret und kann sogar als bloßes Zeichen – als Piktogramm – funktionieren. Die hängende Präsentation verweist auf die dekorative Funktion eines Wandteppichs.
Zirkulierende Windrose und Standortbilder
Wir waren uns einig, dass der Raumversuch überall seinen Platz finden kann. Um unserer Architektur ein Höchstmaß an Flexibilität zu zusprechen, haben wir der Windrose besondere gestalterische Aufmerksamkeit gewidmet. Pfeile zirkulieren um den Nordpfeil und verdeutlichen die wandelbare Verortung, die wir nicht nur im geografischen, sondern auch im kulturellen, gesellschaftlichen und zeitlichen Sinne verstehen.
Wird der „Raumversuch Nummer 6“ tatsächlich gebaut, verwenden wir vor allem Materialien, die in der Umgebung vorkommen. Holz, Steine und Sand, aber auch bereits existierende Bäume, Mauern und Weidezäune werden in das Bauvorhaben integriert. Einzig das Glasgangsystem ist überdacht. Luft, Licht, Wind und Regen sind im Amphitheater und Landschaftspark zu spüren. Der Eingang und die Ausgänge sind jederzeit geöffnet. Es gibt dort keine Türen. Die Laufrichtung ist festgelegt, jedoch kann der Landschaftsbereich unabhängig betreten werden.
Satellitenbilder zeigen meinen Raumversuch implantiert in verschiedene geografische Standorte. An der Westküste der Insel Fuerte Ventura, in der Nähe von Erdended Dsuu, einem buddhistischen Kloster in der zentralen Mongolei. Außerdem in Delphi in Griechenland, um als Tempelersatz dem Orakel einen neuen Ort für ihre Kommunikation mit dem Gott Apollon zu geben. Außerdem schlagen wir der Stadt Leipzig den Raumversuch als neues Einheitsdenkmal vor.
Jedes Bild beschreibe ich mit einem kleinen „Tagebucheintrag“. Dabei lote ich historische und kulturelle Verbindungen zur neuen Umwelt aus, gehe auf mögliche gesellschaftliche Auswirkungen ein, erweitere die Zweckmäßigkeit und zeige weitere Nutzungsmöglichkeiten auf.
Denn für uns ist klar, dass der Raumversuch unabhängig von seiner eigenen Aufgabe, ein Ort der Geselligkeit und der Zusammenkunft werden soll. Amphitheater und Landschaftspark laden ein bespielt zu werden. Kulturelle Bildung in Form von Vorträgen über Blütenpflanzen, Insekten und Labyrinthe („Philosophiestunde mit Aristoteles“) und Lesungen, aber auch Modeschauen und Sportwettkämpfe (Sumo-Ringen), Theater und Tanz sowie Outdoor-Koch-Kurse können veranstaltet und besucht werden.